Noch zwei Etappen, dann sind wir am Ziel. Innerlich triumphierend werden wir wie Gladiatoren die Porta Nigra durchschreiten. Täglich musste der innere Schweinehund neu bekämpft werden. Die Blasenpflaster sind beinahe aufgebraucht. Welches Gefühl erwartet uns wirklich beim Finale? Wir sind gespannt, was uns noch erwartet, fiebern mit Freude, aber auch etwas Wehmut dem Ende entgegen.
Tag 7
Beim Frühstück unterhalten wir uns mit Frau Herres, die aus dem Westerwald stammt. Sie fordert uns auf, eine Brotzeit für den weiteren Weg einzupacken. Danach dürfen wir mit ihr in den Weinkeller, der wenig romantisch einer feudalen Garage ähnelt. Mann und Sohn ziehen gerade den letzten Jahrgang auf die Flaschen und sind im Zuge dieser »heiligen« Handlung wenig gesprächig. Frau Herres weiß dies auszugleichen und berichtet uns, dass die Familie 5 ha im Vollerwerb bewirtschaftet und es das gesamte Jahr über eine Menge zu tun gibt. Derzeit werden die unteren Triebe entfernt. Das geht durch abreißen, erfolgt es allerdings zu spät, muss man erheblich Kraft ins Abschneiden investieren. Am leichtesten ist die Erziehung der Reben an Drähten. Schwerer ist es, die Reben am Stock zu ziehen, da die neuen Triebe immer wieder nach unten gebunden werden müssen. Viele Winzer haben deshalb auf die leichtere Draht-Variante umgestellt.
Wir verabschieden uns, durchqueren den lang gezogenen Ort Klüsserath und bekommen sogar noch unseren Pilgerstempel. Über den Kreuzweg mit seinen Marterln aus bunten Mosaiksteinen geht es steil hinauf zur Marienkapelle und weiter durch die Weinberge.
Dort ist ein anderer Winzer bei der Arbeit und wir kommen gleich mit ihm ins Gespräch. Er erklärt uns seine Tätigkeit, erzählt, dass er hier einige »Felder« besitzt und gerne die Stücke dazwischen kaufen würde. Die Besitzerin will jedoch nicht verkaufen. Er hat neue Rebstöcke gepflanzt, die am Draht gezogen werden. Gegrubbert wird nur in jeder zweiten Reihe, um den Boden vor Erosion zu schützen. Der Sohn, welcher mit im Betrieb ist, möchte die alten Rebstöcke erhalten. Trotz Mehrarbeit liefern sie die beste Qualität.
Der letzte große Anstieg des Moselcaminos liegt jetzt vor uns, es ist der 14. Gipfel. Am Zitronenkrämerkreuz verzehren wir unsere Vesperbrötchen.
Es sind 7,3 km bis Schweich. Der Anstieg ist gemächlich, aber stetig. Auf der Höhe weidet eine Schafherde, welche wir beim Weitergehen auseinandertreiben.
Dann geht es abwärts ins Tal und, lange bevor wir die Autobahn sehen, hören wir den Verkehrslärm. Die Ohren sind empfindsam geworden. Ein unwohles Gefühl überkommt uns: »Wir kehren zurück in die Zivilisation.«
Noch einmal machen wir kurz Rast, halten inne auf einer Bank, wollen nicht so recht. Telefonisch melden wir eine Übernachtung in der Vinothek Wallerath an und brechen plötzlich zügig auf, da eine ungemütlich dunkle Wolke auf uns zukommt. Am Friedhof vor der Kirche erreicht sie uns mit voller Heftigkeit.
Als wir unser Zimmer in der Vinothek beziehen, fallen mir vor der Nebentür zwei Paar ausgelatschte Wanderschuhe auf, die mir nicht ganz unbekannt erscheinen. Ich vermute richtig, sie gehören zu Heide und Hertha (ihr Pseudonym) aus Leipzig. Nach dem Abendessen sitzen wir noch stundenlang mit ihnen zusammen und lassen die Erlebnisse der Strecke Revue passieren. Die „Mädels“ erzählen auch von ihren anderen Pilgertouren, welche sie jährlich unternehmen. Dabei wird das ein oder andere Glas Wein geleert. Gegen 23.00 Uhr ist für uns Pilger Feierabend. Wir fallen sanft trunken ins Bett und gleich in den Schlaf.
Tag 8
Der letzte Pilgertag, und gleichzeitig die längste Etappe liegen vor uns. Zeitgleich starten wir mit den Leipzigerinnen, verlieren uns allerdings am ersten Hügelchen schon aus den Augen, da sie einen Briefkasten suchen.
Es geht sanft voran und dann, welch Wunder, ein Abzweig, bei dem unser Weg nicht nach oben führt, sondern flach am Berg vorbei. Für Nervenkitzel sorgt dann ein Schild mit der Aufschrift »Holzfällerarbeiten, Lebensgefahr! Betreten verboten!« Wir hören keine Motorsägen, glauben nicht, dass am Freitagnachmittag noch Bäume gefällt werden und gehen weiter. Viele Äste und Zweige hindern beim weiteren Vorankommen. Das Ende der Strecke ist mit einem Absperrseil markiert und dort holen uns Heide und Hertha wieder ein. Merkwürdig, hier steht auf dem Sperrschild nichts vom Holzfällen sondern »Heute Jagd«, und wir vier sind froh, dass uns kein Weidmann für eine Rotte Wildschweine gehalten hat.
An einer Weggabelung weist ein weiteres Schild auf Forstarbeiten hin, ein anderes auf eine Umleitungsstrecke. Bei Letzterem ist sogar die Muschel neu angebracht. Heide und Hertha wollen den ursprünglichen Weg laufen, während Elvira und ich die Umleitung wählen. Diese führt nach schlammigem Weg durch den trostlosen Ort Ehring und dann einen Forstweg hinauf. Unterwegs hinterlasse ich Markierungen mit der Uhrzeit, wann wir hier vorbeigekommen sind. Es ist ja möglich, dass das Team Leipzig umkehren musste.
Der letzte Ort vor Trier ist Biewer, den wir über eine wahnsinnig steile Treppe erreichen. Die Muschel führt uns den Umweg über die Jakobuskirche, welche, wie so oft, geschlossen ist. Also begeben wir uns direkt zum Radweg an der Mosel, welcher nun direkt zum Pilgerziel führt. Ein Schild kündigt einen Gasthof vorm Finale an und wir beschließen, dort noch einmal ausgiebig zu pausieren, ehe wir im Triumphzug nach Trier einziehen.
Auf der Asphaltstrecke geht es immer geradeaus. Es dauert, ehe eine Biegung Hoffnung in uns keimen lässt, dass dahinter gleich das Gasthaus erscheinen wird. Es wird auch Zeit, denn es ist heiß, und unsere Wasservorräte sind in Aussicht auf die nahende Schänke aufgebraucht. Der Mund ist trocken, wir reden nicht, freuen uns auf das Ankommen. Doch hinter dem Bogen – NICHTS.
Wieder gerader Asphalt, rechts Lärmschutzwände und links Büsche, die den Blick auf die Mosel verdecken. Unsere Gasthofvision erhalten wir am Leben, aber sie erfüllt sich nicht. Nicht nach der nächsten Biege und nicht nach der Übernächsten.
Das Gehirn wird leer, die letzte Prüfung für den Pilger. Elvira überholt mich. Das macht sie nur, wenn sie im „Schnautze voll – Modus“ ist. Ich lege einen Gang zu, noch ein Bogen, wieder eine lange Gerade. Wie ein Boxer stecke ich die »Schläge« ein. Der Wille hält mich aufrecht, ich befürchte, wenn ich anhalte, breche ich zusammen. Nicht eine einzige Bank gibt es auf der Strecke. Keine Pause mehr?
Elvira rennt und rennt. Ich kann ihrem Tempo nicht mehr folgen. Die Füße brennen, stechen und demütig senke ich meinen Blick. Triumphzug? Vergiss es, ich will nur noch ankommen. Dann sehe ich endlich die Moselbrücke und eine Bank, auf welcher Elvira auf mich wartet, damit wir gemeinsam in Trier ankommen. Wie lieb. Nur zehn Minuten halten wir inne und fühlen uns dann wieder stark genug. Ziel ist die Klosterkirche St. Matthias, dafür müssen wir auf der anderen Moselseite noch einmal bist an das andere Ende von Trier laufen.
Zur Porta Nigra wäre es noch ein Umweg, den wir uns nicht mehr antun möchten. Kein Triumphzug, keine Gladiatoren. Nur zwei erschöpfte Pilger, die am Moselufer entlang unbemerkt am Stadtkern vorbeilaufen. Elvira rennt wieder los, ist frustriert, muss aufs Klo.
Schließlich verlassen wir den Moselweg, Gehen den Wall hinauf zur Stadt und sehen in 200 m Entfernung unser Ziel. Majestätisch und einsam steht sie da, die Matthiaskirche.
Wir besorgen uns die Stempel, die weltlichen Bestätigungen für unsere Mühen. Dann gehen wir in die Kirche, die innen schlicht ist, wie ich Kirchen mag. Andächtig sitzen wir da, jeder lange in seine Gedanken versunken, die Last der Rucksäcke neben uns auf den Sitzbänken. In der Marienecke zünden wir Kerzen an, zum ersten Mal gemeinsam, nebeneinander. Das Marienbild in Grau, Weiß und Schwarz gemalt, berührend einfach, nichts lenkt von der Besinnung ab.
Hier endet unser Pilgerweg, vorerst.
Ab jetzt sind wir Touristen in Trier. Wir sitzen draußen am Brunnen und suchen im Smartphone nach einer Unterkunft, finden die »Alte Villa« in nur 600 Metern und setzen den Mechanismus des Laufens noch einmal schwerfällig in Gang. Der Abend endet früh, wir sind erschöpft.
Samstag
Am nächsten Morgen freuen wir uns darauf, dass wir heute »nur Trier« ansehen wollen. Die Füße schmerzen und bekommen nochmal eine Extraportion Salbe. Dann zieht es uns in die Innenstadt. Konstantin-Basilika, roter Turm, Palais mit Garten, Liebfrauenkirche und natürlich der Dom stehen auf dem Programm. Wir schlendern zur Porta Nigra, entscheiden uns dort für eine Stadtrundfahrt in einer der kleinen Eisenbahnen. Voranzukommen, ohne laufen zu müssen.
Am Nachmittag erreicht uns eine SMS von Heide und Hertha, sie sitzen beim Schoppen am Kornmarkt, wo der Christopher-Street-Day stattfindet. Wir finden sie an einem sonnigen Tisch. Bei nettem Geplauder und mehreren Gläschen vergeht der Nachmittag wie im Flug. Dann nehmen wir Abschied.
Sonntag
Heute geht es wieder nach Hause mit der Bahn. Eine Zwischenstation legen wir in Köln ein, werden am Hauptbahnhof allerdings nicht unsere Rucksäcke los, da die Automaten nicht funktionieren. Frustrierte Menschen stehen hilflos davor, wir auch, denn das heißt, Sight Seeing in Köln mit Gepäck auf dem Rücken.
Dafür sind wir im Kölner Dom die Hauptattraktion, denn dank unserer Muscheln sind wir leicht als Pilger zu erkennen. Mehrfach werden wir angesprochen. Wir bummeln am Rhein entlang, trinken ein Kölsch und treten dann die weitere Heimreise an.
Das war sie, unsere erste Pilgertour. Uns ist klar, wir machen weiter. Weiter durch Frankreich und Spanien, bis Santiago de Compostela.
Wir gehen diesen Weg zu ENDE.
Hallo Thomas,
Danke, dass du mich noch mal mitgenommen hast auf den Mosel-Camino. Da kam dann doch die ein oder andere Erinnerung hoch. Schön ist er, dieser Weg, und ich würde mir wünschen, dass er etwas populärer wird, so dass man auch dort Pilgerfeeling hat, weil man andere trifft. Als ich ihn 2017 gelaufen bin, habe ich so gut wie keine anderen Pilger getroffen, was, da ich allein unterwegs war, abends schade war.
Aber wer weiß – vielleicht tragen unsere Schilderungen ja dazu bei, dass auch andere ihre viel zu großen Rucksäcke schultern.
Ultreia – Audrey