Die heutige Etappe von Rübeland nach Altenbrak wird sicherlich die Anspruchsvollste, denn wir wollen über die Titan RT laufen, die längste Hängebrücke der Welt. Ob wir uns dann auch trauen oder ob unsere Höhenangst Sieger bleibt wird sich zeigen.
Der Fürsorglichste aller Vermieter
„Um 8.00 Uhr gibt es Frühstück“, verkündete gestern Abend unser Vermieter. Boah, ist das früh. Vorsichtshalber stellen wir den Wecker, um pünktlich zu sein. Obwohl wir kaum aus den Augen gucken können, genießen wir die Fürsorge des Pension-Eigentümers, der ständig um uns herum wuselt.
„Oh, wir haben gestern vergessen Ihnen zu sagen, dass wir Vegetarier sind.“ Zerknirscht blicken wir auf die wohl gefüllte Wurstplatte.
„Kein Problem, ich habe alles da“, sprach’s und verschwand, um uns kurze Zeit später reichlich Veggie-Wurst, Käse und andere Leckereien aufzutischen.
„Soll ich noch zwei Eier kochen zum Mitnehmen?“
Nein, soll er nicht.
„Wollt Ihr Euch Brote schmieren?“
Ja, wollen wir gern.
„Es gibt noch Fruchtsaft.“
Vielen Dank, doch wir können nicht mehr.
„Macht nichts, dann packt euch eine Flasche ein.“
Derart freundlich versorgt schultern wir die Rucksäcke, bereit zum Abmarsch.
Selbstverständlich begleitet er uns zur Tür und erklärt uns genauestens den weiteren Wegeverlauf.
Der Bär ist los und die Harzritter unterwegs
An der Baumannshöhle vorbei wandern wir fröhlich über einen mit Glockenblumen gesäumten Pfad steil bergauf bis zum Pavillon „Hoher Kleef“. Wir schauen hinunter auf Rübeland, machen Fotos und die Enkelin drückt den Stempel Nr. 88 in unser Wandertagebuch.
Ein Stück weiter bleibt uns vor Schreck fast das Herz stehen. Da steht ein Bär. Kurze Zeit später Entwarnung. Er ist aus Holz. Es handelt sich um eine Figurenbeute, „Bienotel“ genannt, welche der Verein „Harzritter“ gebaut und an verschiedenen Plätzen im Harz aufgestellt hat. Sie lassen damit eine alte Handwerkskunst wieder aufleben, bieten wilden Bienenvölkern eine Unterkunft und wollen auf das Bienen- und Insektensterben hinweisen.
Wegen Baumfällarbeiten gibt es wieder einmal Umleitungen auf dem Hexen-Stieg. Dieses Mal haben die Hexen jedoch schlechte Karten, denn es wird mit riesigen Bannern darauf hingewiesen.
Die weltlängste Seilhängebrücke Titan RT
Auf einmal liegt er uns zu Füßen, der Rappbodesee. Ein bisschen komisch wird uns beim Anblick, denn hier wartet die größte Herausforderung des gesamten Harzer-Hexen-Stiegs auf uns.
Wir werden ganz mutig sein und es tun:
Wir laufen über die längste Fußgänger-Hängebrücke der Welt, die TITAN RT.
Richtig wohl ist uns beiden nicht bei diesem Vorhaben. Wir gehören mehr zu den Angsthasen und vermeiden normalerweise solche Nervenkitzel. Wir schauen auf den grau schimmernden See zwischen dunklen Fichten, atmen mehrmals tief durch und gehen mit grummelndem Magen weiter.
Titan RT und ein rutschendes Herz
Dann stehen wir am Beginn unseres Traums oder vielleicht eher Alptraums. Es ist mega viel los, eine Menge Leute stehen an, um über dieses filigrane Werk aus Stahl zu laufen. Schnell kaufen wir zwei Karten. Bloß nicht nachdenken. Noch strahlt die Enkelin über das ganze Gesicht, gespannt auf das Abenteuer.
Wir sind dran. Leoparden-Mundschutz hochgezogen, ein letztes Foto, der erste Schritt auf die Gitterplatten. Nach ca. 50 Metern auf der Hängebrücke ist es aus mit dem Strahlen. Es wackelt ganz schön. Mein Herz rutscht irgendwo in den unteren Bauchraum. „Lass es dir nicht anmerken“, beruhige ich mich selbst, „tief atmen und ganz gelassen bleiben, damit die Enkelin nicht ausflippt.“
Titan RT und zwei nervliche Wracks
Während sich die 11-jährige an meine rechte Hand krallt, klammere ich mich mit der Linken ans Geländer. Von wegen gelassen. Die Brücke schaukelt fürchterlich. Mein Herz plumpst ins Knie und rutscht von da weiter in den Wanderschuh. Vor uns laufen zwei junge Damen. Immer wieder drehen sie sich um, sprechen beruhigend auf mein Enkelkind ein, denn ich habe versagt: Mir hat diese Herausforderung die Sprache verschlagen. Leider müssen wir ständig stehenbleiben, weil ein ca. 3-jähriger Knirps das Tempo vorgibt. Endlich, nach gefühlten Ewigkeiten, naht das Ende. Der letzte Schritt. Wir stehen mit grünem Gesicht und Puddingknien auf festem Grund. Die Enkelin verdrückt ein paar Erleichterungstränen, während mein Herz langsam vom Schuh zurück in den Brustkorb krabbelt. Wir haben die Mutprobe bestanden:
Wir sind über dieses Bauwerk der Superlative gelaufen, der Titan RT mit einer sagenhaften Länge von 458,5 m
Kein Blick zurück auf Titan RT
Nach einer Pause schlage ich vor, dass wir uns die Brücke vom Staudamm aus nochmal ansehen können. „Nee, ich will sie nicht mehr sehen“, teilt mir meine Enkelin mit. Also gehe ich allein und sie wartet auf mich.
Nachdem wir uns regeneriert haben, ziehen wir weiter. An der Straße warten wir, da das Aufkommen der Motorradfahrer heute besonders hoch ist, wobei alle in den Kurven ihre Fahrkünste präsentieren. Nach dem Queren des großen Parkplatzes, schließt uns der Wald wieder in seine Arme. Endlich Ruhe vom Trubel. Still hängt jede ihren Gedanken nach, während sich unsere Füße über den mit Gras bedeckten weichen Waldweg freuen. Kurz darauf ruft Thomas, mein Partner an. Wir vereinbaren einen Treffpunkt, denn morgen wollen wir die letzte Etappe gemeinsam mit ihm wandern.
Vom Schweigen im Walde zur Quasselstrippe
Bei der Rast an der Schöneburg gibt es einen weiteren Stempel, die Nr. 63. Im Tal sehen wir unseren heutigen Zielort, Altenbrak. Ein Stück weiter treffen wir auf Thomas, der uns entgegen kommt. Aus ist es mit dem In-sich-gekehrt-sein. Die junge Dame stürzt sich auf ihn, um ihm die Ereignisse rund um ihre bestandene Mutprobe in allen Einzelheiten zu schildern. Ich genieße das Für-mich-Laufen.
Hier haben wir gewohnt:
In Altenbrak suchen wir unsere Unterkunft. Ein letzter schweißtreibender Anstieg auf den Berg. Oben stellen wir fest, dass das Café Fontane nicht identisch ist mit unserer Pension Rodenbach. Verflixt. Wir müssen den Berg wieder hinunter, aber erst nachdem wir was getrunken und ein großes Nougateis verdrückt haben.
Was die hier in Altenbrak nicht können oder vielleicht doch, entzieht sich unseren Kenntnissen. Bei der ganzen Aufregung haben wir unser tägliches Fragespiel vergessen.
Aus dem Tagebuch der Enkelin:
Heute gab es schmale Wege, manchmal waren die auch sehr steil. Am Rand sahen wir viele Kräuter und Mimi war erstaunt, dass ich die meisten kannte. Nun aber Spaß beiseite. Wir kamen zu der Hängebrücke über den großen See. Am Anfang sah es gar nicht so schlimm aus, aber beim Rübergehen schaukelte es wie . . . ach, ich weiß nicht. Ich hatte eine Angst, die kann man sich gar nicht vorstellen. Sogar der Stempel mitten auf der Brücke war mir egal. Am Ende war ich grün im Gesicht und Mimi auch. Die Brücke wollte ich nicht mehr sehen. Mimi hat noch Fotos vom Staudamm gemacht. Wir wanderten weiter und trafen Thomas, der uns entgegen kam. Abends gingen wir endlich mal wieder lecker essen. Beim Jodelmeister habe ich mir Bratkartoffeln bestellt, die waren dann aber mit Speck gebraten. Sowas Doofes. Mimi hat ihr Essen dann mit mir getauscht.
Geschichten die das Leben schrieb – Freue mich auf die Fortsetzung.
Liebe Grüße – an die „Mimi „