Joinville-Essoyes
Wir sind wieder unterwegs. Es ist der dritte Abschnitt (hier geht es zum Anfang der Reise) unserer Pilgerreise. Wir sind in der Champagne, und ich freue mich auf gute Weine nach gelaufenen Kilometern. Wir schreiten eine endlos scheinende Landstraße entlang. Die Asphaltdecke ist stark nach außen gewölbt. Um hier gut laufen zu können, wäre es vorteilhaft, wenn ein Bein kürzer als das andere wäre. Verkehr ist wenig, aber auch die wenigen Autos stören. Weit hinter mir läuft Elvira, macht immer mal ein paar Fotos. Wovon? Keine Ahnung.
Die Anreise
Gestern sind wir mit dem Auto angereist. Ursprünglich wollten wir in Joinville beginnen, wo wir unseren letzten Abschnitt nach Fußproblemen und auf Grund eines französischen Bahnstreiks beendet hatten. Doch in Joinville war wegen eines Stadtfestes kein Zimmer mehr zu bekommen, also verlegten wir unseren Startpunkt nach Longchamp-sur-Aujon. Trotzdem besuchten wir zuvor Joinville. Alles wirkte so bekannt, als hätten wir dort mehrere Tage verlebt. So ein Weg prägt sich tief ein, und ich bin mir beinahe sicher, würde man mich an irgendeinem Punkt des gegangenen Weges aussetzen, wüsste ich sofort, wo ich bin.
Wieder gingen wir in die Kirche, doch zu Elviras Bedauern, fehlte dieses Mal die aufgeschlagene Bibel. Wir zünden zwei Kerzen an für einen guten Weg. Nach dem Besuch einer kleinen Patisserie fuhren wir zu unserer Unterkunft ins Gite »Jo«. Jo und Madame nahmen uns herzlich auf in ihr Ferienhaus.
Wo stellt man das Auto ab?
Wo konnten wir die nächsten 3 Wochen unser Auto stehen lassen? Bei Monsieur Jo ging es nicht, doch er will sich etwas einfallen lassen. Während wir am späten Nachmittag noch eine Runde durch die wenigen Straßen des Örtchens drehten, kümmerte sich Monsieur um die Behebung unseres Problems. Er besuchte den Bürgermeister und teilte uns später mit, dass wir das Fahrzeug auf einem eingezäunten Gemeindeparkplatz abstellen können. Das war mehr als erwartet, einen besseren Platz gab es hier kaum.
Zu unserer Freude stand dann auch noch der Pizza-Wagen vor dem Rathaus, an dem wir uns ausgiebig versorgten. Beschienen von den letzten Sonnenstrahlen saßen wir vorm Ferienhaus, genossen Pizza und ein Bier (eher untypisch in der Champagne) aus der Dose und bewunderten die alten Bäume im Garten.
Stempel nicht vergessen
Wir holten uns den ersten Pilgerstempel in der Mairie. Über einen Schotterweg ging es bei Sonnenschein in Richtung Clairvaux. Schon von Weitem sahen wir das mächtige Kloster. Teile davon wurden allerdings schon vor langer Zeit zu einer Haftanstalt umfunktioniert. Der gesamte Komplex wirkte wie eine Kaserne, lediglich die herausragende Kirche verwischte den weltlichen Charakter. Von hier aus ging es auf der Straße weiter. Acht Kilometer bis zum nächsten Ort, langsam aber stetig ging es bergauf.
Die ersten Weinhänge in der Champagne
Die Straße kommt aus dem Wald heraus und der Ausblick wirkt wie eine Erholung. An den Berghängen hinter einem kleinen Ort sehe ich die ersten Weinhänge der Champagne. Darauf habe ich mich gefreut. Naschen am Wegrand, falls die Erntemaschinen was von den süßen Köstlichkeiten hängen gelassen haben. Auf einem Hügel am Weg steht eine Kapelle und eine Bank, bei der ich auf Elvira warte. Wir essen ein Stück Baguette und ein wenig von der »Ahlen Wurscht«, die ich extra mitschleppe, da ich nichts Süßes zum Frühstück mag. Nach dieser Rast ist der Rucksack um 150 g und einen Apfel leichter. Elvira inspiziert schon ihre erste Blase. Auch mir tun die Füße weh vom schiefen Laufen auf dem Asphalt. Dabei haben wir erst 12 Kilometer geschafft.
Düsenjäger und Pilger – welcher Kontrast!
Nach der Rast kommen wir nur schwer wieder in Gang. Wir gehen durch Champignol-lez-Mondeville. Hier riecht es überall nach den Gasen des gärenden Weines. Zu unseren schmerzenden Füßen gesellen sich schmerzende Ohren, als zwei Düsenjäger im Tiefflug über uns hinweg donnern. Das hatten wir beim letzten Pilgern auch. Trotz Friedenszeiten wirkt das Geräusch bedrohlich, zerschneidet besinnliche Pilgergedanken. Sofort fühle ich mich in meine Kindheit zurück versetzt, allerdings schossen da sowjetische MIG 21 im Geschwader über meinen Kopf. Als Kind fühlte ich mich jedoch geborgen, nun als Erwachsener weiß ich mehr, über die leichte Zerbrechlichkeit eines friedlichen Lebens miteinander. Ich werde in der Kathedrale von Vézeley dafür bitten, dass uns dieser Frieden erhalten bleibt und auch in anderen Regionen Einzug hält.
Weintrauben und Muschel am Wegrand
Unterwegs müssen wir immer wieder großen LKW ausweichen, die Beton transportieren. Minütlich springen wir in den Straßengraben. Noch laufen wir trotz Blessuren wie ein Uhrwerk: alle Viertelstunde einen Kilometer. Erst hinter Saint-Usage sehen wir zum ersten Mal das Zeichen der Muschel. Endlich wird es entspannter, denn nun laufen wir über einen Schotterweg durch die Weinberge. Ich koste von den winzigen Trauben, aus denen bereits beim Pflücken der Saft austritt. Sie sind voller Kerne, die Schale ist hart, und ich spucke sie aus. Kaum zu glauben, dass man daraus einen guten Champagner herstellt.
Wir stehen am »Plateau de Blu«, genießen einen grandiosen Ausblick über die herrliche Landschaft. Weit im Hintergrund entdecken wir die Funkmasten von Les Riceys, dem morgigen Ziel. Jetzt geht es jedoch über den Bergrücken weiter nach Essoyes.
Angst vor dem schnellen Ende
Das Hotel liegt ein wenig außerhalb des Ortes. Noch einmal geht es steil bergauf. Mein Knie beginnt dabei fürchterlich zu schmerzen. Mit letzter Kraft erreiche ich das Hotel. An der Rezeption bemühe ich mich, vor der jungen Dame nicht allzu sehr zu schnaufen. Nach dem Duschen und einem Glas schmackhaftem Leffe-Bier kehren die Lebensgeister zurück. Ich glaube, so fertig wie heute war ich nie, oder verdrängt man das? Mein Knie erholt sich am Abend nicht wieder, und ich befürchte, morgen nicht laufen zu können. Ist das schon das Ende? Nach der ersten Etappe? Ich hoffe auf Heilung in der Nacht durch die gute Beinwellsalbe.