Heute wandern wir über den legendären Brocken nach Schierke. Er ist mit 1.141 m der höchste Berg Norddeutschlands. Berühmt wurde der auch Blocksberg genannte Brocken, weil sich viele Sagen und Geschichten um ihn ranken. Gespenster sollen sich in den oft nebelverhangenen Wäldern verbergen und die Hexen treffen sich alljährlich in der Walpurgisnacht auf dem windumtosten Gipfel. Ich hoffe, wir kommen ungeschoren nach Schierke, nachdem uns in der Nacht bereits die Magengeister heimsuchten.
Aus dem Tagebuch der Enkelin
Mit meiner Vorhersage hatte ich dieses Mal recht – die können keine Betten machen. Aber das ist normal in Jugendherbergen, dass man sein Bett selbst beziehen muss. Noch weniger aber können sie kochen. Die ganze Nacht war mir schlecht und Mimi auch, aber nicht so schlimm. Nach dem Frühstück sind wir schnell weg. Los geht’s auf den Brocken. Ihr denkt jetzt sicher alle, was für ein Aufstieg. Doch nein, der Weg war ganz gechillt. Oben angekommen gingen wir erst einmal Pommes essen und danach eine Runde um den Berg. Mimi hat mir viel erklärt, doch ich konnte es mir nicht vorstellen, dass hier früher eine Grenze war, die niemand übertreten durfte.
Statt auf der Straße nach Schierke zu gehen, liefen wir einen Pfad runter, wo lauter Steinbrocken lagen. Mimi fand das total anstrengend. Ihr tat alles weh. Ich fand es auch anstrengend, aber es hat trotzdem Spaß gemacht. Zum Schluss taten uns beiden die Füße höllisch weh. Wir gingen in unsere Pension und hinterher essen. Mmmh, sehr lecker.
Auf den Spuren der Dichter und Denker
Die breite Wanderautobahn hinauf auf den Brocken ist nach unserem berühmtesten Dichter und Denker benannt: Goethe. Drei Mal war er oben auf dem Gipfel. Sein Drama Faust, 1. Teil spielt auf diesem Berg. Auch Heinrich Heine erzählte in seinem Literatur-Klassiker „Harzreise“ von seinem Aufstieg. Der nach ihm benannte Heinrich-Heine-Weg beginnt in Ilsenburg, soll sehr anspruchsvoll sein und führt über den kleinen Brocken zur Bergspitze. Ich werde ihn mal auf meine Wander-Wunschliste schreiben.
Wir stehen jetzt am „Großen Torfhausmoor“. Im blauen Dunst ragt unser heutiges Ziel auf, das Brockenhaus mit Sendemast. „Hoffentlich schafft es das Schätzchen,“ sind meine geheimen Gedanken, denn nachts war Magen malade angesagt, wobei es sie schlimmer erwischt hatte als mich. Zum Glück wachte sie morgens ganz fidel auf und verlangt nach Frühstück. Der Tag ist gerettet.
Wassergräben, ein Fehlschlag und der Quitschenwald
Neben uns fließt in einem Graben die Abbe. In ihr sammelt sich alles Wasser, welches den Berg herunter rieselt. Wir kommen zu einer Absperrung, einem Fehlschlag. Nach starkem Regen oder der Schneeschmelze kann der Abbe-Graben die erhöhten Wassermengen nicht aufnehmen, dann kann es über das Wehr abgeleitet werden in den leeren Graben. Interessiert betrachtet die Enkelin diese Konstruktion und untersucht ihre Funktionsweise.
Kurze Zeit später finden die Informationstafeln zum „Quitschenwald“ ihre Aufmerksamkeit. Als Quitschen bezeichnet die Harzer Mundart die Eberesche. Nach und nach waren in diesem Gebiet, wie überall, die Fichten von Sturm und Borkenkäfer dahingerafft, ein „Silberwald“ war entstanden. Doch die Natur half sich selbst. Unaufhaltsam wuchsen aus den Samen der Vogelbeere neue Bäume empor. Inmitten der toten Fichten entstand ein neuer lebendiger, artenreicher Wald. Oberhalb von 900 m allerdings verwandelte sich der abgestorbene bewirtschaftete Fichtenforst selbstständig in einen natürlichen Fichtenwald, durch Nichtstun oder weil man sich entschlossen hatte, den Wald nicht aufzuräumen.
Alles Goethe
Am Eckersprung holt sich das Kind den Wanderstempel Nr. 136. Die Bachmitte der Ecker war von ihrer Quelle bis ins nördliche Harzvorland ebenfalls ein Teil der innerdeutschen Grenze und ist heute mit ihrem naturnahen Verlauf ein wichtiger Abschnitt auf dem „Grünen Band“.
Leseempfehlung: Grenzerinnerungen auf dem „Grünen Band“ in der Rhön
Am Goethebahnhof mit seinem Stichwortfahnen rasten wir und verspeisen hungrig unseren gesamten Proviant. Dabei beobachten wir die Menschenmassen, die auf dem Kolonnenweg unterwegs sind. Er war früher Teil des Eisernen Vorhangs, der die beiden deutschen Staaten trennte. Durch die Grenzöffnung in 1989 entwickelte sich aus diesem ehemaligen Todesstreifen das „Grüne Band“. Es verbindet wertvolle Biotope, in denen bedrohte Tiere und Pflanzen einen geschützten Lebensraum finden. Hinter uns schnauft die Brockenbahn bergauf und stößt dabei dicke Qualmwolken aus.
Noch ein Stück geht es bergauf durch ein Moorgebiet, welches ebenfalls nach unserem Universalgenie benannt wurde: Goethemoor.
Brockenaufstieg – noch schlafen die Hexen
Noch einmal pausieren wir. Der restliche Weg ist eine Asphaltstraße. Es ist rammelvoll. Per Schild versucht man den Besucherstrom zu regulieren, doch niemand hält sich daran. Dazwischen rasen Radfahrer den Berg hinunter, andere wiederum quälen sich mühsam berghoch. Es ist ein einziges Chaos. Ein Wunder, wenn es hier nicht zu Zusammenstößen zwischen Radfahrern und Fußgängern kommt. Die nächste Kehre heißt Knochenbrecherkurve. Das sagt doch wohl alles.
Wir kommen wohlbehalten oben an. Als Erstes genehmigen wir uns eine große Portion Pommes, die wir abseits der Menschenmassen futtern. In dichten Trauben sitzen die Gäste der Imbissbuden auf den Bänken. Corona lässt grüßen. Ich stehe zum dritten Mal auf diesem Gipfel, nie war vorher ein solches Gedränge. Liegt es daran, dass viele wegen der Pandemie ihren Urlaub in Deutschland verbringen wie wir auch? Nur den legendären Brocken-Benno haben wir nicht getroffen. Vielleicht ist er seltener oder gar nicht mehr unterwegs, weil er sein persönliches Ziel von 8.888 Brockenaufstiegen im Mai 2020 erreichte.
Auf dem Brockengipfel
Wir ziehen die Gesichtsmaske auf, wurschteln uns durch’s Gedränge, um die wesentlichen Punkte auf dem Gipfelrundweg abzuhaken. Die Enkelin soll schließlich was lernen, dass gehört zu meinen Aufgaben als Oma, bilde ich mir jedenfalls ein. Das obligatorische Foto am Hinweisschild zur Grenzöffnung haben wir schon hinter uns. Den alpinen Brockengarten vermeidend, blicken wir gleich darauf zur Teufelskanzel und dem Hexenaltar. Uuuh, klingt das schaurig, dabei sehen die beiden Felsformationen ganz normal aus. Das Nationalpark-Besucherzentrum ersparen wir uns, nur die Wandernadel Nr. 9 muss sein. Zwischen dem Heinrich-Heine und Johann Wolfgang von Goethe – Gedenkstein hindurch gelangen wir zur Brockenuhr und der Gipfelmarkierung.
Oh weh, oh weh, warum tue ich mir das an?
Schnell knipsen wir ein paar Beweisfotos „Hallo, seht her, wir waren wirklich hier oben“, dann machen wir uns an den Abstieg. Die Enkelin bemängelt, dass es sich wieder um die breite Asphaltstraße handelt und hat keine Lust weiterzulaufen. „Gleich kommt der Eckerlochstieg, der ist nur für geübte trittsichere Wanderer, da wird es leerer“, motiviere ich sie. Ihr Gesicht hellt sich auf, denn klettern mag sie. Wie eine Gämse hüpft die 10-jährige über Felsen und Wurzeln hinunter ins Tal. Bei mir sieht das lange nicht so leicht und flockig aus, von eleganten Bewegungen ganz zu schweigen. Oh weh, oh weh, meine Kniegelenke knacken und dann die Hüfte und erst die Fußknöchel, oh weh, oh weh. Doch was macht eine MimiOma nicht alles, damit sich die Enkelin freut.
Was ist klein und schwarz?
Wir erreichen das „Kleine Hexental“. Wo wohl das Große ist? Neben uns gluckert das „Schwarze! Schluftwasser“. Klar, alles andere würde ja zu freundlich klingen. Links und rechts ragen silberfarbene Baumstümpfe in den Himmel. Tote umgestürzte Stämme bedecken die Hänge. Vorsichtig sehen wir uns um. Bewegt sich da was? Lauert dort eine seltsame Gestalt? Am besten wir singen. Laut schmettern wir „Das Wandern ist des Müllers Lust“ in diese gespenstisch anmutende Landschaft. Da kriegen Geister und Gespenster bestimmt Angst und verschwinden.
Mit viel Geduld regelt die Natur es selbst, verkünden Tafeln des Nationalparks. Na dann, warten wir es ab und schauen in ein paar Jahrzehnten wie es gelaufen ist. Beim Wald will alles wohl durchdacht sein, denn die Folgen von dem, was dort heute getan oder besser unterlassen wird, werden erst in hundert Jahren sichtbar sein. Nach 25 Jahren Ruhe ist ja weiter oben bereits der Quitschenwald entstanden. Und hier unten freuen wir uns über die ersten sattgrünen Stauden. Sie leuchten zwischen den Baumstümpfen hervor und versprechen, dass die Natur sich selbst heilen kann, wenn wir Menschen nicht dazwischenfunken.
Hier haben wir gewohnt:
Müde und abgekämpft erreichen wir Schierke. Wie überall suchen leerstehende Hotels und Gaststätten nach neuen Besitzern. Wir gehen durch den Ort bis zu unserer Pension Andrä. „Die können heute bestimmt nicht schreiben“, lautet die Herausforderung. Wir bleiben im Ungewissen, denn Einlass in die Unterkunft ist per Zahlencode. Den Besitzer werden wir erst am nächsten Morgen zum Frühstück treffen. Nun reservieren wir noch einen Tisch im Café Winkler. Nach Wäsche waschen und erfrischender Dusche tapsen wir später mit unseren kaputten Füßen dorthin. Das Essen ist ohne Fehl und Tadel, der 10-jährige Vielfraß ist zufrieden und damit die Mimi auch.