Unser heutiges Etappenziel ist Torfhaus. Es ist der dritte Wandertag und die 10-jährige schlägt sich bisher sehr tapfer. Kein Murren, kein Klagen. Dabei läuft sie einiges mehr als ich, so oft wie sie abzweigt, vor und zurück läuft oder einen Zickzack-Kurs nimmt. Sie versprüht Abenteuerlust und ist neugierig auf Alles, was da kreucht und fleucht. Dank ihr entdecke ich vieles, was ich sonst glatt übersehen hätte. Und sie ist eine prima Unterhalterin. Mit dem ersten Augenaufschlag am Morgen sprudeln die Worte aus ihr heraus und werden erst durch den Schlaf am Abend wieder gestoppt. Kurz: Enkelin und Mimi sind ein Superteam.
Aus dem Tagebuch der Enkelin
Das Frühstück im Hotel Engel war sehr lecker. Danach starteten wir. Wir gingen über kleine Pfade, neben denen Wassergräben waren. Ein Stück liefen wir durch den Wald und haben uns mit Blaubeeren vollgestopft. Überall flossen kleine Bäche herunter und es gab viel zu erkunden. Dann mussten wir steil bergauf zur Wolfswarte. Das war sehr anstrengend. Oben war es schön, denn ich konnte im Geröll herumklettern. Mimi saß oben auf dem Felsen und hat sich gesonnt. Ich habe gerufen, dass sie runter kommen soll, weil es zusammen mehr Spaß macht. Dann wanderten wir bergab zur Jugendherberge. Heute Abend gab es sehr unleckeres Essen.
Fast verschwunden: Wiesen
Nach dem Frühstück und aufmunternden Worten der holländischen Hotelbesitzer machen wir uns auf den Weg. Bei der Limmo-Brauerei des Klosters schauen wir neugierig durchs Fenster. Ein Stück weiter gelangen wir zum Wanderweg, indem wir das Grundstück der Villa Kassandra überqueren. Nach einem kurzen Aufstieg wandeln wir durch blühende Bergwiesen. Ich schwelge in Kindheitserinnerungen, erzähle meiner Enkelin wie es damals war, als es noch viele solcher Wiesen gab. Inzwischen sind sie fast verschwunden, wurden Opfer landwirtschaftlicher Gewinnmaximierung oder oft auch Bauland. Zauberhaft ist es hier. Die Blüten locken zahlreiche Insekten an. Überall summt, brummt und zirpt es. Am liebsten würden wir uns im hohen Gras ausstrecken, den Wolken zusehen und den Tag verträumen. Doch wir müssen weiter.
Wasser marsch am Dammgraben
Wir beschließen, den Hexenstieg heute zu ignorieren und unseren eigenen Wegen zu folgen. Vielleicht schaffen wir es mit diesem Konzept, Umwege zu vermeiden. Wir suchen uns ein paar interessante Punkte heraus, wo wir hinwollen und vertrauen den restlichen Weg maps.me an.
Zunächst laufen wir am Dammgraben entlang. Er gehört auch zum Oberharzer Wasserregal, ist der längste künstlich angelegte Graben und war wichtigstes Bestandteil für den Bergbau. Die 10-jährige untersucht jedes noch so kleine Bächlein, weshalb wir nur sehr langsam vorankommen. Sie begutachtet die von einer Trockenmauer eingefasste „Kleine Oker“ und erkundet intensiv den umliegenden Wald. Es dauert. Geduldig warte ich. Endlich können wir weitergehen. Jedoch nur ein kurzes Stück, dann hat das Umlenkbecken ihren Forschergeist geweckt und gleich danach der Silberbrunnen. Unermüdlich springt sie über die Gräben und freut sich, als sie ihrem Tagebuch den Stempel Nr. 149 hinzufügen kann.
Jammern und Klagen auf dem Butterstieg
An der nächsten Wegkreuzung verlassen wir den Dammgraben und biegen nach rechts ab. Gemächlich führt der Pfad entlang der Landstraße, die im Namen führt, was uns erwartet: Steile Wand. Kurz darauf stehen wir vor dem anstrengendsten Teilstück des Weges, dem Butterstieg. Warum hat der so einen komischen Namen? Steil geht es bergauf, zum Glück fehlt die Wand. Über Steine und Wurzeln führt der schmale Pfad. Das Enkelkind kann nicht mehr und jammert vor sich hin. Die Waldgräser mit der Kuckuckspucke lenken sie nur kurz ab. Das erste Mal auf dieser Wandertour läuft die 10-jährige an ihrem Limit. Es ist aber auch happig. Ich ignoriere ihre Klagen und gehe weiter. Da muss sie heute durch, es gibt keine Alternative.
Warum tun wir uns das an?
Endlich sind wir oben an der Altenauer Hütte angekommen und sinken erschöpft auf die Bank. Während ich nach Atem ringe, lässt die Enkelin ihren Tränen freien Lauf. Schließlich bricht es aus ihr heraus: „Warum machen wir das eigentlich? Warum tun wir uns das an? Warum müssen wir unbedingt da hoch?“ Tja, warum? Na ja, weil wir uns entschieden haben, zusammen einen Wanderurlaub zu machen, weil das eben die heutige Etappe ist, weil wir nach Torfhaus wollen, weil . . ., ach, was soll’s. Still sitzen wir dort eine Weile, jede für sich in Gedanken versunken. Als wir uns erholt haben, laufen wir die restlichen 300 m bergauf zur sagenumwobenen Wolfswarte.
Wo der Wolf auf uns wartet
Ein Felsenmeer öffnet sich vor unserem Blick, gekrönt von mehreren wuchtigen Felsblöcken, in die man durchaus einen Wolfskopf hineininterpretieren könnte. Verhalten klettert die Enkelin zum Gipfel hoch. Der Frust über die Anstrengung des Aufstiegs ist noch spürbar. Später sitze ich oben auf den Felsen, lasse mich von der Sonne bescheinen und schaue ihr zu.
„Komm runter, Mimi, dann klettern wir gemeinsam hier herum,“ ruft sie mir entgegen. „Soll ich mich in dieses Wagnis stürzen? Die Gesteinsbrocken sind locker. Ob meine Kletterkünste da ausreichen? Ich bin doch schon alt. Wenn mir was passiert, was dann? Ich trage doch Verantwortung für das Kind“, flirren die Bedenken durch meine Gehirnwindungen. „Jetzt stell dich nicht so an, komm schon, das macht Spaß.“ Nun denn, schließlich bin ich die beste Mimi der Welt, wie könnte ich da dem Wunsch meiner Enkelin widerstehen.
Kraxeln macht Spaß
Vorsichtig hangele ich mich den mit Heidelbeersträuchern bewachsenen Hang hinunter. Unsicher suchen meine Füße Halt auf den lockeren wackeligen Felsbrocken. Meine Hände krallen sich in die Büsche. Teilweise rutsche ich auf dem Allerwertesten von Stein zu Stein. Mein Herz klopft laut vor Angst, erste Schweißperlen bedecken die Stirn. Ob das gut geht? Nach und nach werde ich sicherer, bewege mich im aufrechten Gang durch das Meer aus roten, grünen und gelben Felsen. Uuuihh, das macht echt Spaß. Gut, dass mich das Kind von meinem Aussichtsplatz herunter ins Abenteuerland gelockt hat.
Schnurstracks nach Torfhaus durch das Schlachtfeld der Riesen
Wir holen uns Stempel Nr. 135 und plaudern kurz mit einem Mann, der mit Plüschtieren im Rucksack unterwegs ist. Die schleppt er überall hin, um sie für seinen Reiseblog zu fotografieren. Lustig.
Über den schmalen, steinübersäten Wolfswarter Fußweg geht es steil bergab schnurstracks nach Torfhaus, unserem heutigen Ziel. Wieder einmal müssen wir durch umgestürzte Nadelbäume wandern, die nur notdürftig weggeräumt wurden, damit der Weg passierbar ist. Unsere Phantasie geht mit uns durch. Wir spinnen eine Geschichte rund um zornige Riesen, welche die Bäume ausgerissen haben, um sie sich gegenseitig an den Kopf zu werfen. Nach erfolglosem Kampf, den keiner gewonnen hat, zogen sie sich erschöpft in ihre Berghöhlen zurück und waren nie mehr gesehen. Nur das Baumchaos zeugt noch heute von ihrer Anwesenheit.
Hier haben wir gewohnt: Jugendherberge Torfhaus
Kurz vor Torfhaus hat uns der Harzer-Hexen-Stieg wieder. Die Rezeption der Jugendherberge ist erst ab 16.00 Uhr besetzt. Wir nutzen die Zeit, um Uno zu spielen. Die Enkelin mutmaßt heute: „Die können keine Betten beziehen.“ Schließlich checken wir ein und? Es stimmt, wir dürfen unsere Betten selbst beziehen.
Danach das täglich wiederkehrende Ritual. Duschen und unsere Sachen waschen. Bei Letzterem wechseln wir uns ab, mal die Enkelin, mal ich. Zum Abendessen gibt es ein pampiges Etwas. Wir schlingen es trotzdem runter. Der Hunger treibt es rein. Bäh, wie schafft man es, derart schlecht zu kochen. Es ist unfassbar.
Abendprogramm und eine üble Nacht
Unser tägliches Abendprogramm besteht aus Tagebuch schreiben und Weggeschichten erzählen, dann schaut die Enkelin, wie ich finde äußerst alberne, völlig sinnfreie YouTube-Videos während ich lese. Meist fallen uns bereits um 21.00 Uhr die Augen zu. Den ganzen Tag an der frischen Luft und die viele Bewegung machen müde.
Nachts wache ich auf. Es grummelt im Magen. Das fühlt sich nicht gut an. Kurz darauf jault das Kind im oberen Bett auf, springt runter und stürzt ins Bad. Ich hinterher. Dort sitzen wir dann, jammern und klagen, bedauern uns gegenseitig, nehmen Kügelchen und in der Hoffnung, dass sie wirken legen wir uns wieder ins Bett. Dieses Mal die Enkelin unten, man kann ja nicht wissen, ob . . . . Kurze Zeit später ist sie in einen unruhigen Schlaf gefallen. Ich lausche noch eine Weile ihren Atemzügen, dann schlummere ich auch ein. Und, oh Wunder, unsere Mägen haben ein Einsehen, beruhigen sich und lassen uns selig bis zum nächsten Morgen ruhen. Glück gehabt.
Die vorherigen Wandertage:
Etappe 2: Unterwegs von Buntenbock nach Altenau
Etappe 1: Auf den Harzer-Hexenstieg von Osterode nach Buntenbock